Bei der Verkehrswende geht es um mehr als Geld

Der Grünen-Politiker Cem Özdemir ist der Vorsitzende des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestags. Er spricht sich für Gleichberechtigung in der Verkehrspolitik, eine verlässliche Finanzierung des Radverkehrs und die Verkehrswende aus.

Cem Özdemir vor dem Reichstagsgebäude.
Cem Özdemir vor dem Reichstagsgebäude. © Sedat Mehder CC BY 3.0

Herr Özdemir, im Ausschuss sprechen die Mitglieder häufig über die Mobilität der Zukunft, meist geht es dabei um Digitalisierung, Ausbau von Straßen und Schiene sowie den Luftverkehr. Wie sieht denn die Zukunft des Radverkehrs aus?

Für den Verkehrsausschuss würde ich mir wünschen, dass wir viel mehr über die Mobilität der Zukunft sprechen. Leider geben das die Gesetzentwürfe von Andreas Scheuer in der Regel nicht her, das ist zum Teil ganz schön Retro. Zum Glück lässt sich der Radverkehr davon nicht ausbremsen. Ganz im Gegenteil, fast überall wächst die Begeisterung fürs Rad. Und auch wenn ich der Corona-Krise partout nichts Gutes abgewinnen kann, wurde dadurch für alle ganz offensichtlich, was Sie, die ADFC-Mitglieder, und ich schon lange wissen: Auch das Fahrrad ist systemrelevant.

Seit Beginn der Krise vor fast einem Jahr sind noch mehr Menschen aufs Fahrrad umgestiegen. Als Möglichkeit, möglichst viel draußen an der frischen Luft zu sein und dabei auch noch anzukommen. Die Fahrradhändler haben Rekordumsätze gemacht, es gab lange Schlangen vor den Läden und wer sein Fahrrad spontan reparieren lassen wollte, wurde in der Werkstatt freundlich auf das Online-Terminbuchungssystem verwiesen. Natürlich sind unter den neuen Radfahrenden einige, die vorher mit dem ÖPNV gefahren sind, und wieder andere sind von da auch aufs Auto umgestiegen. Das lässt den positiven Klimaeffekt nicht ganz so groß ausfallen wie der Fahrradboom selbst. Aber Radeln schützt ja nicht nur das Klima, sondern macht auch Spaß und hält gesund.

Ich freue mich über jeden Kilometer, den ich mit meinem Rad zurückgelegen kann und stelle hier mal die Wette auf, dass viele, die wegen Corona aufs Rad gestiegen sind, auch dabei bleiben werden. Spätestens seit Corona hat sich das Rad als Verkehrsträger emanzipiert. Und das muss sich jetzt auch als Gleichberechtigung in der Verkehrspolitik widerspiegeln. Nicht nur in den Kommunen, in den Ländern, sondern endlich auch im Bund.

An welchen Stellschrauben muss gedreht werden, damit der Radverkehr im Ausschuss als wichtige Säule eines modernen Mobilitätssystems stärker in den Fokus rückt?

Leider macht ein grüner Ausschussvorsitzender noch keinen grünen Ausschuss, sonst stünde der Radverkehr noch weiter oben auf der Agenda. Aber ich bin optimistisch. Quer durch die demokratischen Parteien sprechen mittlerweile viele Kolleginnen und Kollegen positiv über den Radverkehr. Im Ton hat sich schon einiges verändert. Minister Scheuer steht zwar in Sachen Straßenbaupolitik und verkehrspolitischem Kulturkampf Alexander Dobrindt in nichts nach, aber zumindest hat er erkannt, dass sich mit dem Fahrrad positive Botschaften verknüpfen lassen. Aber auch bei Scheuer bleibt es bei Überschriften, denen nicht viel folgt. Erst recht nicht, wenn es darum geht, die Privilegien des Autoverkehrs gerechter neu zu verteilen. Im Zweifel gewinnen auch bei Scheuer immer die Fahrzeuge mit vier Rädern, siehe das peinliche Hickhack um die StVO-Novelle und den Bußgeldkatalog.

Was können die zusätzlichen Förderprogramme für den Radverkehr bewirken, die der Bund im Rahmen des Klimaschutzprogramms auf den Weg gebracht hat und wo muss jetzt schon erkennbar nachgesteuert werden?

Jeder zusätzliche Euro, der für den Radverkehr ausgegeben wird, ist gut investiert. Allerdings bleibt der Radverkehr in Scheuers Haushalt eine Randnotiz. Gerade einmal ein Prozent der Investitionsmittel landet beim Rad. Hinzu kommt, dass die angesprochenen Programme in der Regel eng befristet sind und deshalb strukturschwache Regionen weniger profitieren, weil sie gerade keine geeigneten Planungen in der Schublade haben.

Wir Grüne können uns beim Radverkehr noch einiges mehr vorstellen, wie die Aufstockung der Mittel für Radwege an Bundesstraßen oder ein bundesweites Programm für Fahrradparkhäuser an Bahnhöfen. Das hätte einen doppelten Effekt für die Verkehrswende. Einerseits die Stärkung des Kombinierens von Rad und Bahn und andererseits ein Schritt im Kampf gegen Fahrraddiebstahl. Die Mittel für Radverkehr aus dem Klimaschutzprogramm will die Bundesregierung im Übrigen unter anderem im Sonderprogramm „Stadt und Land“ zur Verfügung stellen. Das finde ich insofern bemerkenswert, als dass sich Scheuer damit ohne es zu merken von seinem eigenen Narrativ gegen die Verkehrswende verabschiedet.

Wer die Debatten im Bundestag verfolgt, weiß, dass einige bei der Debatte über Verkehrswende und Radverkehr so tun, als wäre das ein Luxus für Großstädter. Ich bin in Bad Urach groß geworden und wenn mir jemand erzählt, das Fahrrad sei eine Sache der Stadt, dann hat diese Person vor allem wenig Ahnung von ländlichen Regionen. Für viele Kinder und Jugendliche auf dem Land und für alle, die sich auch danach kein eigenes Auto leisten können, ist das Fahrrad das Mittel der Wahl, um in die Schule, in die Stadt oder zum Einkauf zu fahren. Vor allem dann, wenn Bus und Bahn nicht fahren. Es geht bei Verkehrswende eben nicht nur um mehr Geld.

Was ist außer Geld entscheidend für die Verkehrswende?

Wir haben gerade über Fördermittel für den Radverkehr gesprochen und zur Wahrheit gehört auch dazu, dass viele Mittel des Bundes gar nicht verbaut werden. Allein beim Programm für Radschnellwege liegen über 74 Millionen Euro im Verkehrsministerium rum. Kurzfristig mag das wie eine Entschuldigung wirken nach dem Motto: Wieso wollt ihr dann noch mehr Geld? Aber so werden wir nie genug Radverkehrsplanerinnen und -planer bekommen, nie mehr Geld verbauen. Was der Radverkehr braucht, ist eine dauerhaft verlässliche Finanzierung, keine eng befristeten Sonderprogramme. Es braucht eine klare Ansage des Bundes: Ja, wir wollen die Verkehrswende.

Wo liegen die Herausforderungen in den nächsten Jahren im Bereich der Mobilität?

Wir erleben gerade einen Verkehrsminister, der überfordert ist mit dem, was sich draußen alles verändert. Er kommt nicht hinterher, wenn mittlerweile der Chef des größten Autobauers der Welt voll auf E-Mobilität setzt und für den Abbau der Dieselsubventionen trommelt. Er wundert sich, wenn Umfragen mittlerweile regelmäßig gesellschaftliche Mehrheiten für ein Tempolimit auf Autobahnen prognostizieren oder der überparteiliche Städtetag zuletzt weniger Autos in Innenstädten fordert.

Wer bei weniger Autos immer noch den verkehrspolitischen Kulturkampf wittert, ist nicht up-to-date. Vor Ort geht es längst nicht mehr um ein holzschnittartiges Auto versus Fahrrad versus Fußgänger. Vor Ort geht es darum, den begrenzten Verkehrsraum möglichst gewinnbringend für alle aufzuteilen. Die meisten Autofahrer gehen eben auch mal zu Fuß oder fahren mit dem Rad. Hier heißt die Währung weniger Staus, weniger Unfälle und attraktivere Innenstädte. Und vor allem geht es darum, dass sich Eltern keine Sorgen mehr machen müssen, wenn sie ihr Kind mit dem Fahrrad zu Schule fahren lassen.

Leider denken unsere Verkehrsregeln das alles noch nicht mit. Wenn eine Kommune heute eine Fahrradstraße einrichten will, muss sie beweisen, dass dort schon viel Rad gefahren wird, obwohl das ja gerade das Ziel ist. Wer Tempo 30 einführen will, muss vorlegen, dass die Straße gefährlich ist. Ich will aber nicht, dass zuerst etwas passieren muss. Da brauchen Akteure vor Ort mehr Entscheidungsfreiheit für die Verkehrswende. Was wir brauchen ist eine Art neue „Verfassung“ für die Straße, die alle Verkehrsträger gleichermaßen berücksichtigt, egal, ob und auf wie vielen Rädern sie unterwegs sind. Das kann Aufgabe der nächsten Bundesregierung sein.


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